Jeder kennt es: Der eine Mensch kommt mittags gesund nachhause, fühlt sich plötzlich krank und liegt abends mit hohem Fieber im Bett, fiebert einige Tage durch, hat heftigen Auswurf und ist nach einer Woche wieder fit, vielleicht fitter, als zuvor. Ein Anderer ist schlapp und müde und fühlt sich kränklich, nach einigen Tagen hat er etwas erhöhte Temperatur, die Sekrete laufen nicht, es zieht sich hin mit Abgeschlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen und nach einigen Wochen ist er immernoch nicht wieder gesund. Beide Erscheinungen haben die selbe medizinische Diagnose: grippaler Infekt. Dennoch sind es zwei verschiedene Krankheitsbilder! Was der Eine heftig oder zu heftig durchmacht, gelingt dem Anderen nur zu schwach. Bei dem Ersten müssen wir die Reaktionen ggf. begrenzen, beim Anderen unterstützen. Die Diagnose wird durch den Nachweis des Erregers gestellt, der in der Tat bei mehreren Menschen der gleiche ist. Das Krankheitsbild hat damit zu tun, wie der betreffende Mensch auf diesen Infekt reagiert. Der Erreger kommt von Außen. Die Reaktion des Organismus hängt von seiner Konstitution ab. Oft werden daher, wenn die Diagnose gestellt ist, alle Menschen gleich behandelt, weil es sich um die selbe ERkrankung handelt („evidenz basierte Medizin). Aber wenn wir die Menschen, statt die Erreger behandeln wollen, ist die Behandlung sinnvollerweise unterschiedlich.
Für mich ist die anthroposophische Menschenkunde eine Methode Krankheitsbilder zu erfassen und Prozesse im Organismus wahrzunehmen, die mit Prozessen in der Natur verwandt sind, daher mit Mitteln aus der Natur beeinflussbar sind.
Es gibt keinen Gegensatz von Diagnose und Krankheitsbild, weswegen sich die anthroposhische Medizin nie und nimmer als „Alternative“ versteht, sondern als Ergänzung.
Das gilt nicht nur für grippale Infekte. Bei keinen zwei Menschen geht die selbe Krebsdiagnose mit dem gleichen Krankheitsbild einher, kein Rheumatiker gleicht dem Anderen, jeder Mensch reagiert auf Stress oder auf ein Trauma anders, bei Jedem trifft der selbe Erreger auf eine andere Konstitution. Diese Unterschiede haben in der Schulmedizin wenig Relevanz, in der anthroposophischen Medizin sehr wohl.
Der Blick der Menschenkunde richtet sich mehr auf Prozesse, als auf Zustände und erlaubt es uns auch, z.B. die verhärtenden Prozesse, die zu einem Gallenstein führen, verwandt zu erleben mit der seelischen Verhärtung bei einer zwanghaften Seele. Das muss nicht miteinander einhergehen, aber wenn, dann ist es mit einer Gallen-Operation in der Regel nicht getan, denn dann sehen wir eine Konstitution, die nach der Gallen-OP nicht verschwindet, sondern wahrscheinlich zu anderen Verhärtungen, vielleicht einer Sklerose führen wird, wenn wir nicht mehr unternehmen. Das vermag die Schulmedizin nicht, die auf anderen Feldern großartiges leistet, was die anthroposphische Medizin nicht könnte. So ergänzen sich beide. Im Interesse des Patienten aber liegt eine Erweiterung des Blickes! Dass das etwas zeitintensiver ist, als „nur“ eine Diagnose zu stellen, versteht sich von alleine.